Ländlich-melancholische Poesie?
Analyse und Einordnung von Ludwig Chr.H. Höltys Gedicht »Der Winter«
(Seminararbeit, Universität Hamburg 2001)
Wie nahezu die gesamte frühe und Winterdichtung Ludwig Heinrich Christoph Höltys wurde desseb erstes Gedicht Der Winter im 20. Jahrhundert kaum beachtet. Wenn es überhaupt einmal erwähnt wurde, so als nicht näher charakterisiertes Beispiel für die 'Unselbständigkeit' der frühen Hölty-Dichtung. Dem gegenüber stand die an einer programmatischen Briefäußerung des Dichters orientierte Einschätzung, das Typische und Eigentliche des Dichters liege in seinem dann bald gefundenen, unverwechselbaren, eigenen Ton: in der ländlich-melancholischen Poesie.
Diese Charakterisierung wurde jedoch weder näher definiert, noch basiert sie auf einer nachvollziehbaren Analyse von Höltys Werk. Sie ist vielmehr Dreh- und Angelpunkt eines sich selbst erklärenden Modells, das sich vorwiegend auf biographische Informationen, auf Stimmungskomponenten sowie auf die literaturhistorische Bedeutung des Göttinger Hains stützt. Somit stellten sich für meine Arbeit zwei Fragenkomplexe:
- Wie genau kam die oben zusammengefasste Forschungsmeinung zustande? Welche Methoden liegen ihr zugrunde, von welchen Annahmen geht sie aus, wie zieht sie ihre Schlüsse, und welche Kontroversen löst sie aus?
- Wie ist das Gedicht Der Winter tatsächlich einzuordnen?
Meine Ausgangsthese war, dass schon das erste Gedicht Höltys einige der für seine gesamte Dichtung charakteristischen Elemente enthält, so auch Elemente 'ländlich-melancholischer' Poesie. Um die These zu prüfen, habe ich den Winter - nach einer Kritik der Hölty-Forschung des 20. Jahrhunderts - einer genaueren Analyse unterzogen. Das Gedicht überrascht durch Eigenheiten im Aufbau und in der Verwendung literarischer Motive sowie durch die Kombination sanfter Töne mit abrupten Übergängen. Und trotz ländlich-melancholischer Elemente will es nach wie vor nicht zum Grundton der bestehenden Hölty-Forschung passen. Daraus ergibt sich die Forderung nach weiteren Untersuchungen des 'untypischen' Hölty mit der Perspektive einer zumindest partiellen Neubewertung seines Werks.
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Der Winter
Die Erde traurt im weißen Todtenkleide,
Und übergiebt sich träger Ruh.
Kein Westwind haucht dem Wandrer Scherz und Freude
Mit frischen Veilchendüften zu.Der Ströme und der Bäche Urnen schließet
Des wilden Winters kalte Hand;
Und Boreas durchwühlt die Luft, und gießet
Ein Meer von Flocken auf das Land.Nun sinken auf die Wälder Silberhüllen,
Und auf das fahle Hüttendach
Des Landmanns. Hohe Schneegebürge schwillen
Ringsum den kleinen Wiesenbach.Er murmelt keine Wonne durch die Fluren,
Wie er im jungen Frühling that.
An seinem Ufer schlummern welke Spuren
Der Blume, die der Frost zertrat.Der Landschaft vormahls bunte Scenen liegen
Entstellt. Ein finstrer Schleyr umzieht
Des Tages Antlitz. Neue Flocken fliegen
Im Luftraum, wo kein Phoebus glüht.Sey mir, du Flur, du weißgeschleyrte Erde
Gegrüßet! Deine Majestät
Bezaubert mich, wiewohl jetzt keine Herde
Auf deinen öden Triften geht,Und keine Harmonie die Schattengänge
Des Waldes füllt. Ich liebe dich
Mehr als den Flitterprunk, und das Gedränge
Der Stadt, von der die Ruhe wich.Die Schönen wandeln hier im Hermeline
Den Bällen zu, und Chloe fängt
Mit ihrem Busen, ihrer Zaubermiene
Den Stutzer, der ihr Weyrauch schenkt.Die Siegerin! Die Männerblicke hangen
An ihrem Haar, an ihrer Brust,
Die immer wallt, an ihren Rosenwangen,
Und sie ist ihres Siegs bewußt.Nun rollen, gleich des Windes Flügeln, Schlitten
Durch des gedrängten Pöbels Schwall;
Und Stentor trabt mit abgemeßnen Schritten,
Sobald der Abend winkt, dem BallEntgegen, wo sein Lockenbau und Weste
Der Schönen Augen auf sich reißt.
Sein Federhut verräth, er sey der größte
Erfindungsvollste, feinste Geist.Hier dreht man sich im Tanze
Der labyrinthisch sich verstrickt,
Und von der jungen Schönen Myrtenkranze
Wird oft ein Blätchen abgepflückt.